Acht Leute quetschen sich in’s überhitzte Auto. Ich sitze vorne auf Sams Schoß und blicke in den Seitenspiegel. Ich habe das Gefühl seit langem endlich wieder wirklich erholt auszusehen. Keine Augenringe mehr, keine eingefallenen Wangen und von der Sonne geküsst. Endlich zeichnet sich die psychische Wandlung auch wieder in meinem Äußeren ab, anstatt sich in einer geisterhaften Erscheinung meiner selbst noch nachtragend zu manifestieren.
Wir fahren über die staubige Landstraße Richtung Meer. Die Luft steht und drückt die Brust nieder. Ich strecke meine Hand aus dem offenem Fenster um den Fahrtwind zu spüren. Der Strand besteht eigentlich nur aus Klippen, was meiner Ansicht nach wesentlich angenehmer mit der sengenden Sonne harmoniert, als überhitzter Sand. Das Wasser ist türkisblau und glasklar, wie aus dem Bilderbuch. Es ist unheimlich salzig und so kann man sich ohne große Anstrengung einfach treiben lassen. Man muss nur ein wenig auf die Seeigelvölker Acht geben.
Ich schließe meine Augen und lausche dem Meer, während Sasa einen seiner Monologe über das Weltgeschehen hält. Früher hat er Dinge die niemand brauchte an Haustüren verkauft, irgendwann ist die Blase zerplatzt. Er fand das nicht mehr richtig. In der Nähe Šišans kauft er ein Grundstück und lebt dort erstmal für ein Jahr allein und abgeschieden. Irgendwann stößt der Pole Marcin dazu. Wie genau das von stattenging habe ich wohl verdrängt – auf jeden Fall fingen Marcin und Saša Couchsurfer zu sich zu holen. Mittlerweile ist eine Art Hippiekommune daraus geworden. Auf dem Grundstück steht ein kleiner Wohnwagen in dem man schlafen kann, die übrigen schlafen entweder in Zelten oder Hängematten. Wahrscheinlich habe ich die Hälfte meiner Zeit in Šišan gedankenverloren in meiner Lieblingshängematte verbracht. Eine riesige, weiße Tür dient als Gemeinschaftstisch und es gibt sogar eine kleine Outdoorküche. Das ganze funktioniert auf Spendenbasis und da es den Leuten hier so gut gefällt funktioniert es auch ziemlich gut. Es sind immer rund zehn Couchsurfer gleichzeitig am Start. Die Zeit zerfließt da hin. Eigentlich wollte ich nur zwei Nächte bleiben – es wird eine Woche daraus. Jeden Tag reden wir darüber, dass wir morgen fahren werden. Maybe tomorrow, maybe the day after tomorrow. Es ist ein Ort an dem man alles hat was man braucht. Versunken in einem Traum. Versunken in der Hängematte. Versunken im Meer. Gemeinsam besingen wir die Nächte und sind füreinander da. Irgendwann fällt bei jedem die Maske und jeder gibt sich in seiner wahren Kernform – man erkennt dann, was man immer wieder vergisst – dass wirklich jeder irgendwo einen Knacks weg hat und jeder Knacks hat etwas schönes.
Irgendwann entschließen sich einige von uns dazu etwas aktiver zu sein und machen einen Ausflug. Wir leihen uns Fahrräder aus und fahren in einen Nationalpark. Der Hinweg ist steinig, von Steigungen geprägt und dauert drei Stunden. Drei Stunden in der sengenden Mittagshitze. Ich bin nicht die Sportlichste und habe ein Rad abbekommen bei dem die Gänge nicht richtig funktionieren, aber durchbeißen war ja schon immer meine Stärke. Der Hauptgrund für diese dezente Odyssee ist die Aussicht auf einen Sprung. Cliff diving nennt sich das. Nachdem wir uns also in einer komplett aus Stroh bestehenden Bar kurz ausgeruht haben geht es an die eigentliche Mission des Tages.
Springen. Ich. Springen macht mir immer Angst. Vor allem in’s Wasser. Selbst wenn es nur ein Meter ist, ja selbst bei einem kleinen Hopser. Jedes Mal muss ich mich überwinden, auch wenn ich mich jedes Mal danach großartig fühle. Es ist mein Respekt vor dem Meer, gemischt mit Höhenangst und dem Fakt dass man nie wirklich genau sagen kann, wie es sich anfühlen wird. Dass alles zusammen lässt mein Herz rasen. Als Kind bin ich unerschrocken gewesen. Mit elf habe ich sogar mal Bungeejumping gemacht. Es hat mich alles nicht interessiert, ich wollte nur den süßen Adrenalinkick. Letztes Jahr führte mein zweiter epileptischer Anfall dann dazu, dass ich Angst bekam. Vor allem. Wenn ich Nachts nach Hause ging, traute ich mich nicht mehr dabei Musik zu hören und zuckte bei jedem Geräusch zusammen, ich hatte Angst im Dunkeln, vor Wasser, vorm Fahrradfahren, vor Kabeln – Elektrizität allgemein. Ich ging nur noch selten feiern, weil es für mich zur kompletten Reizüberflutung wurde und die Technobeats, die ich früher so liebte löste Herzrasen aus. Ich bekam regelmäßig Panikattacken und konnte nicht mal mehr Kaffee trinken, weil mich jede noch so kleine erhöhte Herzfrequenz sofort triggerte. Ich ging immer seltener aus dem Haus, weil ich Angst hatte alleine nach Hause zu müssen und wurde für meine Verhältnisse extrem introvertiert. Ich konnte nicht mehr ich selbst sein. Das schlimmste ist, dass einem die Irrationalität bewusst ist – es ist trotzdem schwierig etwas dagegen zu tun. Der beste Weg eine Angst zu überwinden, ist sie nicht zu meiden. Angst hört nie auf. Wenn man die eine umgeht, kommt die nächste. In den letzten Monaten habe ich viele meiner Ängste selbst überwunden – ich wollte nicht, dass es mich einschränkte. Ich wollte wieder unerschrocken sein. Die letzte Panikattacke hatte ich im Februar. Nach und nach schwanden die Ängste und seit ich angefangen habe zu reisen ist nur noch ein kleiner Rest übrig. Darunter eben diese Sprungangst.
Als ich auf der acht Meter hohen Klippe stehe und in’s Türkise Wasser hinabschaue, weiß ich sofort, dass ich springen muss. Dass ich nicht gehen werde, bevor ich auch diese Angst überwunden habe. Meine Freundinnen denken überhaupt nicht darüber nach. Ein kurzer Schrei, ein kleiner Hüpfer – das war’s. Ich denke mir im ersten Moment auch, dass es doch gar nicht so schwer sein kann, setze einen Fuß vor und – da ist es. Herzrasen, schwitzige Hände und natürlich sieht das Wasser von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher und ferner aus. Ich lasse andere vor. Viel zu viele. Ich sehe Kinder, die von der elf Meter hohen Klippe springen und ich sehe, dass nichts passiert. In meinem Kopf streiten sich Rationalität und Angst, aber ich will. Ich weiß dass es passieren wird. Irgendwann werden die umstehenden auf mich aufmerksam. Natürlich – ich steh da ja auch schon seit mehr als einer halben Stunde mit ausgestrecktem Fuß. Geil. Jetzt sind alle Blicke auf mich gerichtet. „What’s her name?“ „Just jump!“ „You didn’t have enough Sangria.“ Mindestens 30 Menschen haben ihren Blick auf mich gerichtet. Ein Fuß – soweit, dass ich mich nicht mehr halten kann. Ich zittere, ein Schrei, eine Schwebe, eine Leichtigkeit – ein paar Sekunden. Ich höre die Menschen über mir schon johlen und klatschen, während ich Unterwasser bin. Für manche von euch, scheint es übertrieben klingen, doch dieser Sprung hat mir so viel bedeutet. Noch nicht mal der Sprung – die Überwindung. Ein Beweis – so glasklar. Als ich grinsend auftauchte und mir all diese Menschen fremden Menschen zujubelten, fühlte sich das an, wie eine Bestätigung für die letzten Monate. Für das Kämpfen. Für die fielen Momente in denen ich glaubte, dass ich nie aus meinem verkorkstem Kopf rauskommen würde und trotzdem weitermachte. Es einfach versuchte. Ich werde immer noch vor den meisten Sprüngen Angst haben. Es wird immer noch Menschen geben, für die acht Meter oder mehr ein Kinderspiel ist. Wichtig ist, dass ich mich überwinden kann, wenn ich möchte. Ich kann selbst entscheiden ob ich springe oder nicht – es ist nicht mehr die Angst, die es mir verwehrt. Das ist eine Freiheit, die ich sehr zu schätzen gelernt habe.
Auf dem Weg zurück geht es glücklicherweise hauptsächlich Berg ab. Wir heben die Hände hoch – die Haare wehen im Wind, die goldene Abendsonne lässt unsere Haut schimmern. Es ist fast zu schön um wahr zu sein und irgendwie auch ein wenig kitschig. So ein richtiges young, wild and free Cliché, aber Clichés sind ja nicht zwangsläufig schlecht.
An einem anderen Tag sind wir auf einem Festival. Mit Farbe im Gesicht und Blick auf’s Meer. Ein Haufen zusammengewürfelter Menschen, die sich aufeinander einlassen. Überschwänglich und unkontrolliert. Ja auch das ist ein großer Gewinn an Lebensqualität. Ich kann mich auf Partys wieder richtig gehen lassen und die Stimmung genießen – ohne Angst, vor was auch immer.
Leise rieselt der Schnee im Inneren, während wir im Morgengrauen am Wasser sitzen und reden. Das mag ich am liebsten am Ausgehen. Dieser konfuse Morgen danach. Es wird langsam hell. Die Dämmerung ist wunderschön, die Welt atmet auf und jeder ist ziemlich verwirrt und out of space. Am Tag nach der durchtanzten Nacht fragt man sich durchgängig, wie das nochmal funktioniert mit dem normalem Leben. Wie ist man eigentlich normal? Aber letztlich ist das einzig wichtige, dass ich auf meine nackten, durch das Salzwasser aufgeweichte Füße hinabblicke. Dass das nicht nur meine Füße sind, sondern auch die von Maia, Kat und Ellen – mit denen ich mich so selbstverständlich verbunden fühle. Es existiert nur noch die fast schon unangenehm schwüle Luft, der schwere Kopf und dieses leise Glück. Nicht diese überschwängliche, sich nach außen tragende Version von Glücklichsein. Es ist diese Art der inneren Zufriedenheit. Sie ist einfach da, während man am Wasser sitzt und anscheinend alles hat was man eigentlich braucht. Leise klopft ein Gedanke an. Ein wohliger Seufzer und das Gefühl von Geborgenheit. Als wäre man angekommen, für einen kurzen Moment.
Nach einer Woche entscheide ich zu gehen, weil ich merke, dass es mit jedem Tag schwerer wird diesen Ort der Leichtigkeit zu verlassen. Natürlich könnte ich noch länger bleiben, aber irgendwas sagt mir, dass es jetzt richtig ist. Jedes Mal wenn ich länger als drei Tage an einem Ort gewesen bin (und mich dort wirklich wohl gefühlt habe) ist es unheimlich merkwürdig Abschied zu nehmen. Da ich schon vor meiner Reise ständig umgezogen bin und seit letztem Oktober keine eigene Wohnung mehr hatte, habe ich ein sehr ausgeprägtes Anpassungsvermögen entwickelt und fühle mich meistens nach einigen Stunden schon wie Zuhause. Ich baue sehr schnell Bindungen auf. Sowohl zu Menschen als auch zu Orten. Das ist natürlich ein großer Vorteil beim Reisen, aber es ist jedesmal eben auch ein recht schwerer Abschied. Halb aufgeregt auf das Kommende, halb wehmütig über das Vergangene und außerdem noch völlig out of space vom Festival sitze ich im Bus und lasse die märchenhafte Küste Kroatiens an mir vorbeiziehen. Ich frage mich, ob ich irgendwann zu diesem kleinen Zuhause zurückkehren werde.
Well…maybe tomorrow, maybe the day after tomorrow.